Zwangsstörungen im ICD-10:
Die Konfrontationstherapie wird ja schon fast als Allheilmittel bei Angst- und Zwangsstörungen gepriesen. Zweifellos ist sie in deren Therapie ein sehr hilfreiches und wirksames Werkzeug.
Aus meiner eigenen Erfahrung (ich habe seit vielen Jahren beides) kann ich folgendes dazu sagen:
- Sie ist EIN Werkzeug, keinesfalls aber ein Allheilmittel, das immer und überall eingesetzt werden kann und soll.
- Es wird manchmal behauptet, sie "programmiere" das Gehirn neu, sodass
es lernt, bei bestimmten Situationen nicht mehr Stresshormone
auszuschütten. Dem kann ich nur begrenzt beipflichten. Ja, dieser Effekt
trat des öfteren ein. Keineswegs aber immer. Selbst wenn ich bis zum
"bitteren Ende" durchgehalten habe, war das Resultat nicht automatisch
immer, dass es das nächste Mal viel leichter ging. Manchmal trat das
Gegenteil ein: Eine beinahe traumatische Erfahrung, die mich nicht etwa
einen Schritt vorwärts, sondern 50 zurück warf.
- Selbst wenn der
gewünschte Effekt eintrat, hatte ich kurz- mittel- und langfristig
regelmäßig den Eindruck, dass hier keineswegs die Ursache, sondern
lediglich die Symptome bekämpft wurden. Faktoren, die möglicherweise zur
Entstehung der Störungen beigetragen haben, sind - wenn überhaupt - nur
sehr eingeschränkt angegangen worden: Schädliche Glaubenssätze und/oder
Bewertungen, Traumata, neurologische Veränderungen, Missbrauch, Gene,
Krankheit, Unfall etc.
- Eine Trainerin in einem Fitness-Center hat
mir mal gesagt: "Aus einem Rehpinscher kann man eben keine Bulldogge
machen" (ähem...). Übertragen auf Angst- und Zwangsstörungen (und
möglicherweise auch weitere Erkrankungen) bedeutet das, dass eine
Besserung nur bis zu einem bestimmten Punkt möglich ist. Den Patienten
darüber hinaus bewegen zu wollen, hat meiner Erfahrung nach keinen
positiven, sondern einen sehr negativen Effekt, der den gesamten
bisherigen Erfolg in einem Augenblick null und nichtig machen kann.
- Oft genug hatte ich den Eindruck, die Wissenschaft ist bei der Behandlung dieser Störungen mittels Psychotherapie und Medikamenten noch in den Kinderschuhen. Offenbar hat man kaum eine Vorstellung davon, was sich im Gehirn des Patienten dabei abspielt, was Symptom und was Ursache ist sowie warum ein Werkzeug oder Medikament wirkt und warum nicht. Da wird standardmäßig dieselbe Phrase bei jeglicher Erkrankung heruntergeleiert (genetische Veranlagung in Verbindung mit Umweltfaktoren), die in ihrer allgemeinen Darstellung weder dem Klienten noch dem Therapeuten hilft.
- Der Patient ist Experte seiner/ihrer Erkrankung. Vielleicht wäre es besser, ihm/ihr zuzuhören, als automatisch nach Lehrbuch vorzugehen? Eine Größe passt eben nicht für alles.
15.12.2019
Robert Gollwitzer
www.nervenstark.org